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Stress verstehen & heilen

Wie ich lernte, mein Nervensystem zu beruhigen


Die Reise mit ME/CFS hat mich gezwungen, Stress ganz neu zu begreifen – nicht nur als etwas Psychisches, sondern als ein Zusammenspiel von Körper, Gedanken, Emotionen und unbewussten Mustern. Ich durfte (und darf noch immer) lernen, mein Nervensystem zu regulieren – nicht durch Kontrolle, sondern durch bewusstes Fühlen, achtsames Erleben und liebevolle Annahme.


In diesem Beitrag teile ich meine wertvollsten Erkenntnisse und Tools, die mir auf meinem Heilungsweg helfen. Vielleicht spürst du dich in manchen Momenten wieder.







Körper und Psyche – eine Einheit


Gesundheit ist mehr als das Fehlen von Krankheit. Sie ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Körper und Psyche – sie beeinflussen sich in jedem Moment gegenseitig. Ein zentrales Konzept dabei ist unser autonomes Nervensystem – genauer gesagt der sogenannte "Fight-Flight-Freeze-Response". Dieser Überlebensmechanismus hat sich evolutionär entwickelt, um uns in akuten Gefahrensituationen zu schützen. Bei wahrgenommener Bedrohung – und das kann heute auch emotionaler oder kognitiver Stress sein – reagiert unser Körper mit Kampf (fight), Flucht (flight) oder Erstarrung (freeze). Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird flacher, Stresshormone werden ausgeschüttet. Diese Reaktion ist sinnvoll – aber wenn sie dauerhaft aktiv bleibt, kann sie uns krank machen.


Viele chronische Symptome sind Ausdruck eines Nervensystems, das zu lange im Alarmzustand war/ist. Körperliche Beschwerden, Schlafprobleme, Erschöpfung oder sogar Schmerzen können daraus entstehen – ganz ohne organisch messbare Ursache. Mind-Body-Symptome sind ein Ausdruck dieser Verbindung: körperliche Signale, die aus einem inneren Ungleichgewicht entstehen – oft ausgelöst durch langanhaltenden Stress, unterdrückte Emotionen oder alte Schutzmechanismen.

Aber das Gute ist: Unser Gehirn und Nervensystem sind formbar. Was sich über Jahre eingebrannt hat, lässt sich auch wieder verlernen. Heilung ist möglich – wenn wir beginnen, uns selbst wieder wirklich zu spüren und unser System Schritt für Schritt in Sicherheit zu bringen.


Polyvagal-Theorie


Dr. Stephen Porges beschreibt mit der Polyvagal-Theorie drei grundlegende Zustände unseres Nervensystems:


  • Verbundenheit & Sicherheit (ventraler Vagus): Wir fühlen uns ruhig, präsent und sozial offen.

  • Kampf oder Flucht (sympathisches System): Der Körper schaltet auf Action – Herzrasen, Anspannung, Unruhe.

  • Erstarrung oder Rückzug (dorsaler Vagus): Wenn nichts mehr geht, fühlen wir uns wie abgeschaltet.


Diese Zustände verändern sich fortlaufend – abhängig davon, wie sicher oder bedroht wir uns in einem Moment fühlen. Es geht nicht darum, dauerhaft im Zustand der Ruhe zu bleiben, sondern darum, anpassungsfähig zu sein. Entscheidend ist die Fähigkeit, nach Stress oder Überforderung wieder in einen Zustand der inneren Stabilität und Verbundenheit zurückzufinden.


Unser Nervensystem reagiert dabei immer auf den Input, den es erhält. Manchmal kann es jedoch passieren, dass der innere "Alarmsensor" – ähnlich wie bei einer überempfindlichen Alarmanlage – zu sensibel eingestellt ist. Dann werden selbst harmlose Reize als Bedrohung wahrgenommen, und der Körper reagiert übermäßig stark mit Stresssymptomen. In einem gesunden Zustand hingegen reguliert sich das Nervensystem selbstständig und findet von alleine zurück in die Balance.


Heilung durch Co-Regulation

Das menschliche Nervensystem ist darauf ausgelegt, sich in sozialen Kontexten zu regulieren. Schon im frühen Kindesalter erfolgt emotionale Stabilisierung maßgeblich durch den Kontakt zu verlässlichen Bezugspersonen – etwa über Körpernähe, Blickkontakt und stimmige emotionale Rückmeldungen. Diese Fähigkeit zur sozialen Regulation bleibt auch im Erwachsenenalter erhalten.

Zwischenmenschliche Interaktionen mit empathischen, achtsam zugewandten Menschen können das autonome Nervensystem beruhigen, Stressreaktionen modulieren und das Erleben von Sicherheit fördern. Regulation und Heilung sind somit nicht nur individuelle, sondern auch soziale Prozesse.


Doch ebenso können Beziehungen, die uns nicht gut tun – in denen wir uns ständig anpassen, unsere Bedürfnisse zurückstellen oder über unsere Grenzen gehen – unser System überfordern. Solche Verbindungen kosten oft viel Energie, schwächen unsere innere Stabilität und erschweren es dem Nervensystem, in einen Zustand von Sicherheit und Ruhe zurückzufinden.


Traumasensibilität

Manche Reaktionen haben ihren Ursprung in alten, oft unverarbeiteten Erfahrungen. Sie zeigen sich im Körper, im Nervensystem – manchmal akut und plötzlich, manchmal chronisch. Hier kann psychotherapeutische Begleitung entscheidend sein.

Durch gängige Regulationstechniken wie Atemübungen, Meditation oder Körperarbeit kann viel an die Oberfläche kommen – manchmal mehr, als man allein halten oder einordnen kann. Das kann ganz schön überwältigend sein.


In solchen Momenten bietet eine traumasensible psychotherapeutische Begleitung Halt und Orientierung. Sie schafft einen sicheren Rahmen, in dem Überwältigendes behutsam verarbeitet werden kann – Schritt für Schritt und im eigenen Tempo.


Wenn Erholung selbst zum Stress wird



Vielleicht kennst du den Gedanken: „Ich darf jetzt nicht krank werden...“


Dieser Satz kommt oft dann, wenn unser System bereits am Limit ist – kurz vor dem Urlaub, vor einem wichtigen Event, oder wenn wir uns „eigentlich“ erholen sollten.


Warum passiert das genau dann?

Weil dein Nervensystem vorher im Dauer-Überlebensmodus war. Und sobald der äußere Druck nachlässt, beginnt dein Körper loszulassen – und das, was lange unterdrückt wurde, zeigt sich.

Deshalb: Warte nicht, bis du „Zeit hast“, um dich um dich zu kümmern. Gönn deinem System jetzt kleine Pausen. Damit du im Urlaub gesund bist – und nicht erst danach.



Kleine Alltagsrituale – große Wirkung

Nervensystem-Regulation muss nicht kompliziert oder teuer sein. Oft sind es die kleinen Dinge im Alltag, die wirklich den Unterschied machen. Das Leben heutzutage ist alleine schon ein Stressfaktor – besonders in der westlichen Welt. Permanentes Licht, ständiger Lärm und eine Flut an Nachrichten, die ununterbrochen um unsere Aufmerksamkeit kämpfen. Und dann noch die immer teureren Tools und Angebote zur Regeneration. Doch wenn wir uns auf die Einfachheit besinnen, ist das nicht nur der simpelste, sondern auch der günstigste und oft effektivste Weg zu mehr Ruhe und innerem Gleichgewicht.


@ Nina Mahr Fotos
@ Nina Mahr Fotos

Hier sind meine 10 liebsten Tools, um Ruhe, Präsenz und Balance in meinen Alltag zu bringen:


  1. Spaziergänge in der Natur

  2. Achtsames Atmen

  3. Spielen

  4. Vorlesen

  5. Musik hören

  6. Klavierspielen

  7. Meditieren

  8. Pflanzen großziehen

  9. Zeichnen

  10. Loslassen vom Ergebnis – einfach nur im Moment sein


Welche Methode hilft dir, dein Nervensystem zu beruhigen? Ich freue mich, wenn du deine Tipps in den Kommentaren teilst.



Meine persönliche Erfahrung – wenn Selbstregulation selbst zum Stress wird


Nach meiner Diagnose „Me/Cfs“ hat es 1,5 Jahre gedauert, bis ich wirklich begriffen habe, dass ich immer noch vor mir selbst davonlief – innerlich getrieben, ständig auf der Suche nach „der“ Lösung. Warum ging es mir trotz all der Tools nicht besser? Weil mein Tag zwar voller Meditation, Atemübungen, somatischer Körperarbeit, Lesen und Recherchieren war – ich aber im Grunde nur das Thema gewechselt hatte, nicht den Zustand. Ich hatte meinen alten Stresszyklus nicht unterbrochen, sondern lediglich mit neuen Inhalten gefüllt. Was ich lange nicht verstanden hatte: Nervensystemregulation ist nicht etwas, das ich „leisten“ oder abarbeiten muss. Sie ist sanft. Sie ist langsam. Und sie wirkt am besten, wenn ich weniger mache, nicht mehr.

Erst als ich meine körperlichen Grenzen wirklich angenommen habe – ohne sie verändern zu wollen –, konnte mein System langsam beginnen, den inneren Alarmsensor herunterzufahren. Dieser Weg war (und ist) nicht linear. Denn mit jeder neuen Stufe von Belastungstoleranz – ob körperlich, emotional oder kognitiv – melden sich Symptome oft noch einmal besonders laut.

Aber genau dann liegt der Schlüssel: dem Nervensystem zu signalisieren, dass auch dieser Moment sicher ist. Dass all das, was gerade da ist, da sein darf. Es ist eine intensive Reise – aber sie bringt mich tiefer in Verbindung mit mir selbst, als ich es je für möglich gehalten hätte.


Meine 4 wichtigsten Erkenntnisse zur Stress-Reduktion




  1. Bewusst im Moment sein – und Körpersignale früh erkennen

    Stress kündigt sich nicht immer laut an. Oft beginnt er leise – mit einem Engegefühl in der Brust, einem flachen Atem, einem erhöhten Puls. Früher habe ich diese Zeichen überhört oder ignoriert. Bei Müdigkeit habe ich stattdessen zu Kaffee oder Energydrinks gegriffen, statt mir Ruhe zu gönnen. Ich habe viel zu häufig krank gearbeitet, obwohl mein Körper klar gesagt hat: ab ins Bett. Und ich habe mich oft von To-do-Listen treiben lassen, selbst dann, wenn Erholung die gesündere Alternative gewesen wäre. Heute versuche ich, all das als Sprache meines Körpers zu verstehen. Denn unser Körper sendet Signale – wir müssen nur lernen, hinzuhören, bevor wir im völligen Erschöpfungsmodus landen.


  2. Emotionen fühlen lernen

    Ich habe gelernt, nicht mehr alles „wegzudenken“. Wenn ein Gedankenkarussell losgeht, frage ich mich: Was fühle ich gerade wirklich? 

    Ein Gedanke wie „Ich schaffe das nicht rechtzeitig“ kann in Wahrheit Angst bedeuten. Und diese Angst hat oft auch einen körperlichen Ausdruck. Bei mir sitzt sie zum Beispiel im Solarplexus – wie ein enger Druck, fast wie ein zugezogenes Korsett. Früher habe ich mich oft mit Coping-Strategien abgelenkt – wie Social Media, Sport, Einkaufen, Alkohol oder endlosem Planen. Mein Stress-Bucket war so voll, weil ich mir nie bewusst Zeit genommen habe, Gefühle wie Trauer, Ärger oder Angst wirklich zu verarbeiten. Heute versuche ich, präsent zu bleiben und mir selbst Raum zu geben. Denn Gefühle wollen gefühlt werden – nicht wegrationalisiert.


  3. Regeneration ohne Leistungsdruck

    Tools wie Meditation, Breathwork oder Somatic Experiencing können unglaublich kraftvoll sein – aber nur, wenn wir sie nicht mit Druck ausführen. „Ich muss mich jetzt entspannen!“ – dieser Gedanke allein kann schon wieder Stress erzeugen. Deshalb: Lass das Ergebnis los. Erlaube dir, zu üben, zu spüren – ohne etwas erreichen zu müssen. Gerade bei einem sensiblen Nervensystem ist „weniger“ oft mehr. Und: Eine gute Anleitung ist wichtig. Besonders bei intensiveren Tools. wie zum Beispiel Breathwork oder Somatic Experiencing, kann es sinnvoll sein, sich professionelle Begleitung zu holen.


  4. Mit Gelassenheit statt Panik auf Symptome reagieren

    Ein riesiger Gamechanger für mich: Nicht in Panik geraten, wenn Symptome auftauchen.

    Wenn ich mit Angst oder Widerstand auf Symptome reagiere, verstärke ich die Negativspirale – mein Nervensystem gerät noch mehr unter Druck. Stattdessen versuche ich heute, den jetzigen Moment so anzunehmen, wie er ist – mit allem, was gerade da ist. Das Nervensystem lernt durch Erfahrung. Wenn ich mir erlaube zu sagen: „Ja, das ist gerade da. Und es darf da sein.“, dann entsteht auf lange Sicht auch Sicherheit. Denn Widerstand erzeugt Stress. Annahme schafft Entlastung. Und genau das ist oft der erste Schritt in Richtung Heilung.



Fazit: Heilung beginnt mit einem Moment der Achtsamkeit


Achtsamkeit heißt nicht, immer positiv sein zu müssen

Achtsamkeit bedeutet "Ich nehme wahr, was ist". Das entlastet dann auch das Nervensystem. Wenn du gerade viel mit dir trägst – körperlich, emotional oder mental – ist es wichtig zu wissen: Selbstfürsorge ist kein Rückschritt, sondern ein notwendiger Teil deiner Stabilität. Vertraue deinem Prozess – auch wenn er langsamer verläuft, als du es dir wünschst - "Geduld ist der schnellste Weg".


Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Ich freue mich über deinen Kommentar oder Austausch – vielleicht können wir uns gegenseitig Mut machen.



Haftungsausschluss: Medizinische Beratung und Gesundheitsinformationen

Die in diesem Blogbeitrag enthaltenen Informationen dienen ausschließlich zu Informationszwecken und stellen keine medizinische Beratung, Diagnose oder Behandlung dar. Diese Website ist KEIN Diagnosetool und kann nicht verwendet werden, um medizinische Diagnosen vorzuschlagen, zu bestätigen, zu widerlegen oder auszuschließen. Alle Inhalte, einschließlich Texte, Artikel, Empfehlungen und Kommentare, wurden nach bestem Wissen und Gewissen verfasst, um den Lesern hilfreiche allgemeine Informationen zu bieten. Die Autorin ist keine Ärztin und gibt keine medizinischen oder gesundheitlichen Heilversprechen ab. Konsultieren Sie bei gesundheitlichen Fragen oder Beschwerden immer Ihre/n Ärztin/Arzt.

 
 
 

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